Kapitel 1-3 aus dem Roman "Pestgrab" (Katkuhaud, Varrak 2007)
Übersetzt von Cornelius Hasselblatt
1. Kapitel
Er wirkte wie eine dunkle Wolke, eine Sonnenfinsternis am Himmelszelt, der Bronzesoldat in Tõnismäe, um den die estnische Polizei ein Absperrband gespannt hatte, das den Platz vom Rest der Stadt abschirmte. Die Statue des sowjetischen Soldaten musste geschützt werden, damit sie nicht den Hass zwischen den Nationen schürte. Aber gerade das Band selbst erzeugte, im Verbund mit den den Platz bewachenden Polizisten, das Gefühl, als hätte man das Rad der Zeit zurückgedreht.
Der Bronzesoldat war ein Denkmal der Besetzer und wurde ‚Der Befreier‘ genannt. An Feiertagen zur Festigung der Sowjetmacht wurden zu seinen Füßen Kränze und Blumen abgelegt, auf dem Platz wurden Staatsakte abgehalten.
Als Estlands Selbstständigkeit wiederhergestellt wurde, verlor das Denkmal seinen offiziellen Status und wandelte sich zu einem Treffpunkt für Veteranen des Großen Vaterländischen Krieges. Man tauschte dort Fronterinnerungen aus, tanzte, sang und trank Wodka. Das Fest fand im Mai eines jeden Jahres statt und zeigte durch seinen veränderten Charakter deutlicher als alles andere, dass die vergangenen Zeiten vorbei waren.
Bis eines Frühlings estnische Nationalisten mit ihren blau-schwarz-weißen Fahnen bei dem von Roten Fahnen umsäumten Denkmal auftauchten. Das wirkte für die Gegenseite wie eine Grabschändung, obwohl man auch ein halbes Jahrhundert danach noch nicht sicher weiß, ob in der Nähe des Platzes überhaupt jemand begraben war. Nach einem erhitzten Gedankenaustausch, bei dem estnische Flaggen zerzaust wurden, griff die Polizei ein und sperrte den Platz mit einem Flatterband ab.
Ich wunderte mich selbst, dass der vom Absperrband umsäumte Platz auf mich wie eine Abschirmung wirkte, als handele es sich um einen Tatort, der erst noch untersucht werden musste. Als im Interesse des Hausfriedens kein einziger estnischer oder russischer Fuß mehr das abgeschottete Gebiet betreten durfte, brach eine leidenschaftliche Diskussion darüber los, ob man den Bronzesoldaten am selben Ort belassen oder an einen weniger auffälligen Ort bringen sollte. Die einen forderten eine Beseitigung des Bronzesoldaten, die anderen verteidigten die symbolträchtige Figur und plädierten für ihr Bleiben, wieder andere schlugen vor, an derselben Stelle ein Monument zur Ehrung aller in russischer oder deutscher Uniform gefallener Männer zu errichten. Dann wäre die Trauer über die Verluste auf beiden Seiten für alle verständlich.
Das von der estnischen Polizei verordnete Annäherungsverbot machte den Platz zu einem heiligen Ort. Ein auf Negation gegründeter Schutz, eine Heiligkeit, die Bedeutungen auslöschte. Mit jedem Tag, an dem keine Entscheidung fiel, stiegen die Spannungen.
Am Krieg der Symbole nahmen bereits die Kinder und Kindeskinder der Gefallenen teil, die den Krieg oder die Nachkriegszeit nicht einmal mit eigenen Augen gesehen hatten.
In den Diskussionen wurde immer betont, man dürfe die Gefühle der Sieger und ihrer Nachfahren nicht verletzten. Man dürfe keine Wunden aufreißen, hieß es dann delikat.
Ich hörte mir diese Streitgespräche an und glaubte meinen Ohren nicht zu trauen. Ich schaute von Monat zu Monat auf den polizeilich bewachten Platz und glaubte meinen Augen nicht zu trauen. Ich hatte das Gefühl, als würde mitten auf diesem für unberührbar erklärten Flecken Erde ein Machthaber vergangener Zeiten eine unterbrochene Rede fortsetzen, wir sehen ihn nicht, weil er eine Tarnkappe trägt, aber der Moment, in dem aus seinen anschwellenden Worten Hass und Streit auflodern, ist so gut wie angebrochen.
Muss man, um die Bedeutung vergangener Ereignisse im Kern zu verstehen, sie in einem Bild wiederherstellen, das wie eine Theatervorstellung anmutet, fragte ich mich, als die Trauerpose des Bronzesoldaten als Gespenst zu Leben erwachte.
Schicksale, die aus dem Scheintod in der Realität gelandet sind, gab es ohnehin zur Genüge.
Im Frühjahr, als die feierliche Bewachung des Bronzesoldaten begann, schrieb das Eesti Päevaleht:
Enn Saarse (68), Sohn eines Offiziers der estnischen Vorkriegsrepublik, der infolge sowjetischer Repressionen seine Identität verloren hat, ist von Recht und Gerechtigkeit des estnischen Staates enttäuscht.
Der dreijährige Sohn von Aleksander Saare, dem ehemaligen Adjutanten eines Kommissars der estnischen Polizeiakademie, geriet am 14. Juni 1941 als Repressionsopfer in russische und deutsche Lager und lebte seitdem als Waise mit falschem Geburtstag und falschem Namen. Im Jahre 1990 fand der Mann, der annähernd 50 Jahre als Nikolai Sarsin gelebt hatte, seine wahre Herkunft und seinen richtigen Namen.
1994 erhielt Saarse von der Estnischen Republik im Zuge der Rechtsnachfolge die estnische Staatsangehörigkeit und einen Pass. Sein kompliziertes Leben, das mittlerweile über eine Doppelidentität verfügte, ging aber weiter – unter dem Namen Nikolai Sarsin hat er auch die russischen Staatsangehörigkeit, und er lebt mit seiner Gattin hauptsächlich in Kaliningrad (dem ehemaligen Königsberg).
Saarse versuchte jahrelang Gerechtigkeit zu erlangen und in Tallinn eine Wohnung und eine estnische Rente zu bekommen. „Ich weiß nicht, an welche estnische Instanz er sich noch nicht gewandt hat“, sagte Saarses Sohn Aleksandr, der Oberleutnant bei den Estnischen Streitkräften ist.
Ohne langen Prozess ist es dem betagten Mann nicht gelungen, von Estland eine Rente zu erhalten. Lettland und Russland zahlten ihm eine Teilrente (weil der Mann in beiden Ländern gearbeitet hat), aber von Estland erhielt er nichts.
Ende letzten Jahres erfolgte der Gerichtsentscheid, demzufolge ihm als Repressionsopfer für die Jahre 1941 bis 1956 eine dreifache Rente zustehe. Saare hält das aber nicht für gerecht, weil seiner Meinung nach die Repression bis zum Jahre 1990 andauerte, als er endlich erfuhr, wer er war.
Nach Bewertung diverser Gerichte und Beamter sehen die estnischen Gesetze eine solche Variante nicht vor. Ab dem Jahr 1957 hätten diejenigen, die unter den Massendeportationen gelitten haben, nach Estland zurückkehren können. Wer in Russland blieb, blieb sozusagen freiwillig. „Wie kann ich freiwillig geblieben sein, wo ich nicht wusste, wer ich war und woher ich stammte!“, bemerkt Saarse dazu zutiefst empört. Nach der Entscheidung des Tallinner Kreisgerichts von dieser Woche kann er sich noch an den Estnischen Staatsgerichtshof wenden.
Saare betont, in seine ehemalige Heimat zurückkehren zu wollen. Er hat zwar auch momentan seinen offiziellen Wohnsitz in Tallinn, aber das ist die Zweizimmerwohnung, die die Familie seines Sohnes, eines Offiziers der Estnischen Streitkräfte, gekauft hat. (…) Gelitten hat er außerdem, weil er kein Estnisch spricht, sondern die estnischen Beamten bittet, mit ihm auf Russisch zu verkehren.
Wie kann man einem Mann helfen, der sich nach seiner verlorenen estnischen Heimat sehnt und dies in der Sprache derer tut, die seine Heimat vernichtet haben?
Wie verhält man sich denen gegenüber, die den Fall folgendermaßen kommentieren: Wurzeln sind eine Sache, aber de facto handelt es sich hier um einen typischen Sowjetbürger, der nicht einmal Estnisch kann. Was will er hier?
Ein zweiter Kommentator fügt hinzu: Ich begreife wahrlich nicht, wieso Estland ihm eine Rente zahlen sollte. Ist Estland für das Elend dieses Mannes verantwortlich? Wenn überhaupt, dann soll Russland zahlen.
Ein dritter Kommentator fragt: Wie kann ein Mann in den Estnischen Streitkräften dienen, dessen Vater von Recht und Gerechtigkeit des estnischen Staates enttäuscht ist?
2. Kapitel
Wurden zu wenige von uns umgebracht, frage ich mich, sind nicht hinreichend viele von uns getötet worden, wiederhole ich die Frage, während ich gleichzeitig den Mann mittleren Alters im Sessel vor mir im Auge behalte. Ob es mein Vetter von einem Onkel oder einer Tante oder der Sohn der Tochter einer Großtante ist, hat an dieser Stelle keine Bedeutung, auf jeden Fall ist er ein Verwandter mütterlicherseits.
Gleich muss ich mir einen Namen für ihn ausdenken – das Leben hat meine Leidenschaft hinsichtlich falscher und richtiger Namen im Laufe der Jahre deutlich abgekühlt. Namen kann man wechseln wie Kleider, wie Strümpfe, wenn man Schweißfüße bekommen hat, denn die Zeiten sind so, dass du für den Preis eines Butterbrotes, der sich zum Beispiel auf vierzigtausend beläuft, zweihundert Millionen kaufen kannst, wenn die Dinge zusammenfallen, kannst du ebenso günstig eine so oberflächliche Kleinigkeit wie eine Biografie, eine Namen, eine entsprechend geänderte Identität bekommen. Gewaltsame Veränderungen hat es ohnehin gegeben. Über Millionen sprechen wir hier natürlich nicht.
Auf jeden Fall ist der Kauf eines Namens und einer Identität weitaus billiger als der augenscheinlich inadäquate Eintausch der Geldscheine.
Wenn du ein König bist, vermagst du alles. Am stärksten ist die Leidenschaft bei selbst ernannten Königen, Bluts- und Traditionsbande verblassen daneben wie der Schnee vom letzten Winter, an dessen Farbe man sich nicht einmal mehr erinnern kann.
Denn alles ist gestattet. Wesentlich ist, dass alles gestattet ist, wenn du das Ausmaß der Möglichkeiten begreifst. Es ist geschmacklos, um Wahrheit und Recht, um ethisches und unethisches Handeln zu streiten, wenn das Gesetz nichts dazu sagt. Gesetze haben bekanntlich Lücken wie Käse Löcher. Um sie zu bemerken, muss man ein Auge haben. Die Löcher sind das Kennzeichen der Qualität eines Käses.
Wenn ich ein Loch im Käse bin, gebe ich jemandem die Möglichkeit. Mich kann man in technisch hochstehenden Labors fälschen. Wir sind hierzulande Meister im Vervielfältigen von Dokumenten, versuch mal herauszubekommen, wo ich bin oder du, er oder ein Esel: das Bild stimmt, die Legende ist an ihrem Platz und die Echtheit der Sicherheitselemente der Dokumente wird von den Kontrollapparaten fast immer bestätigt.
Freilich – nur bis zu dem Moment, an dem man einen Fehler entdeckt, der auf die künstlerische Ader der bewundernswerten Meister verweist. Ohne diesen Fehler bliebe die Kunst der Meister anonym und das Verlangen, ihre Unternehmung zu wiederholen, käme den Nachahmern überhaupt nicht in den Sinn. Die Unmöglichkeit muss wenigstens einmal das Potenzial zeigen, das die Möglichkeit für einen künstlerischen Höhenflug in sich birgt, und das äußert sich nur in einem entdeckten Fehler.
Der Mann heißt Arp, dachte ich im selben Moment, als sein Blick aus dem Sichtfeld herauszufließen begann und sich in mich bohrte, ich sah geradezu, wie er sich aus dem Sessel erhob, um die uns trennende Distanz zu überwinden. Ein Schattenkörper hatte sich von dem im Sessel sitzengebliebenen Körper gelöst, er war so nahe, dass er mich jeden Moment berühren konnte.
Heißt du Archippos oder Arp, fragte ich plötzlich.
Der Schattenkörper bewegte sich als kaum merklicher Wellenhauch zurück: Im Sessel saß ein Mann mit düsterem, abwesenden Blick und versteinertem Gesichtsausdruck.
Arp. Es musste ein estnischer Name sein.
Vor einem Jahr war die Feuerbestattung von Kaata. An ihrem Geburtstag, also vier Monate vor ihrem Tod, erzählte Kaata, dass sie sich nicht sicher war, ob sie eine Erd- oder eine Feuerbestattung wollte. Feuer tut weh. Ich habe irgendwie Angst vorm Feuer, obwohl ich weiß, dass ich dann wohl (?) nichts mehr fühle. Eine Erdbestattung wiederum ist teuer. Ich möchte, dass mein Sohn möglichst wenig Scherereien mit mir hat. Er hat so viel zu tun.
Ärni haben wir durchaus im Sarg begraben und neben Mutter. Ein schöner trockener Ort war es. Der Sohn suchte den Pastor aus. Die Ansprache war sehr schön.
Ich war wohl ein bisschen so wie Kaata, als ich das so sagte. Arp schaute und schaute bloß, mit Augen wie Kugeln. Diese Augen waren das ganze Treffen lang so eigenartig.
Und er hat sich nicht ein einziges Mal bewegt. Ich wundere mich bis heute, dass Arp sich kein einziges Mal bewegte, er war wie aus Stein, er war ein Standbild.
Dann fiel mir dieser Satz ein, dass zu wenige von uns umgebracht wurden, der Satz war im Plural, obwohl er sich auf mich zu beziehen schien.
Bin ich im Plural, überlegte ich. Sieht (oder sah) Arp, dass ich im Plural war?
Später unterhielten wir uns noch über das eine oder andere, über das Wetter und das Land, Gott und die Welt – hauptsächlich war ich es, die redete, deswegen erinnere ich mich auch nicht mehr daran, was genau ich redete –, und Arp saß schweigend da und redete, ohne den Mund zu bewegen, ohne den Arm zu heben, der Leib verharrte auf der Stelle, obwohl es Momente gab – diese Momente schienen die ganze Zeit auf dem Sprung zu sein – ja, es gab Momente, in denen sein Körper aufstehen und kommen wollte, aber jedes Mal erwischte Arp das sich vom Körper lösende Selbst gerade noch am Rockschoß, so dass ich nur den Ansatz zum Kommen sah, nicht mehr das Kommen selbst, und ich redete und redete und Arp hörte zu und ich hörte meinem Reden zu und abgesehen von Angst verspürte ich nichts bei diesem Treffen.
SO REDETE KAATA AUCH EINST MIT MIR.
Mitten in einem schneelosen November, während sie durchs Fenster den verwilderten Garten und die erfrorenen Äpfel an den Ästen betrachtete, erzählte Kaata, dass sie den Garten jetzt völlig anders einrichten wollte.
Ich dachte mir, dass ich im Frühjahr die Apfelbäume hier fällen werde, komm guck mal, sagte sie zu mir, während sie auf Stock und Tisch gestützt dastand, siehst du, den da – Kaata stach mit dem Stock beinahe durch die Scheibe –, der trägt zwar schön, aber jetzt erntet niemand die Äpfel, man kann sie gar nicht alle essen, und sie zu entsaften schaffe ich auch nicht mehr, und den anderen da, schau, dort neben dem Komposthaufen, das Gestrüpp da in der Ecke, den fälle ich.
Und dann säe ich Gras und pflanze Blumen.
Noch mehr Blumen?
Ja, noch mehr Blumen, damit man zu jeder Jahreszeit was Blühendes im Garten hat, damit man Farben hat, viele helle frohe Farben, ich habe von dem derzeitigen Schwarz und Braun die Nase voll, graues, diesiges, grässliches Wetter, aber – Kaata hielt einen Moment inne und schmunzelte – ich muss für die milde Witterung dankbar sein, im Schuppen ist wohl nicht besonders viel Holz.
Nein.
Siehst du, dies grauschwarze Wetter hat auch sein Gutes. Ich fürchte mich regelrecht vor dem Winter, vor Frost habe ich am meisten Angst.
Mich juckte es, etwas anderes zu fragen, ich wurde ganz kribbelig und wollte das Gespräch an mich reißen und steuern, während Kaata immer noch Blumen und Hecken pflanzte, die beiden Kalksteinplatten mit dem Riss auswechselte, die auf dem Weg von der Gartenpforte zum Haus dermaßen ins Auge stachen, dass Kaata niemals das Haus betreten konnte, ohne sie zu sehen.
Selbst wenn ich meine Augen gar nicht auf die Platten richte, sogar so tue, als wüsste ich gar nicht, dass sie existieren, sehe ich sie doch. Das ist so eine fixe Idee von mir, dass sie nicht auf meiner Route sein dürfen.
Und was habe ich sie seinerzeit doch sorgfältig ausgesucht, als ich sie kaufte, Kaata sehnt sich noch im Nachhinein, ich wollte, dass dieser Garten bis in den letzten Winkel hinein in Ordnung wäre, jauchzt sie und tickt mit ihrem Stockende aufgeregt auf den Fußboden. Ich wollte, dass mein Garten der allerschönste wäre.
Du hattest einen schönen Garten, du hattest wirklich einen schönen Garten, beeilte ich mich einzuwerfen.
Aber jetzt nicht mehr, ich bin faul geworden, und Kaatas aufgesetztes Lächeln ist Spott und Bedauern zugleich.
Das Licht sickert träufelnd von den Zweigen, wie immer wird der Himmel ganz unerwartet und plötzlich dunkel. Wir stehen vor dem hervorstechenden Glanz der Fensterscheiben und können weder drinnen noch draußen etwas erkennen.
3. Kapitel
Die Grenze von Wäldern, Landschaften, Häusern, Gärten und Lichtern offenbaren sich dem Blick – oder ist es der Blick, der sie dem bewusst machenden und interpretierenden Verstand offenbart – zögernd, so dass man sich daran gewöhnen kann, dass sie da sind und in sich selbst geschlossen: Du siehst, wie sich etwas endgültig annähert, und wunderst dich doch, dass es plötzlich da ist, hier und jetzt, und du selbst stehst auf der einen oder der anderen Seite und nur in der Einbildung auf beiden gleichzeitig.
Ich bin aus West-Virumaa zu Kaata gekommen, genauer gesagt: aus dem Virumaa meiner Kindheit. Damals wurde der Landkreis noch nicht in Ost und West eingeteilt. Der mit einem Bindestrich bezeichnete Trennstrich war noch unbekannt.
Es war gerade das Gutshaus von Vakeristi und die Dörfer in seiner Umgebung, die den Beginn meiner Jagdperiode bezeichneten (bezeichNEN). Dieser Berufswechsel ist gerade erst passiert und frisch, aber doch schon ein wenig vergangen, weil ich in der Lage bin, ihn von außen zu betrachten und darüber zu sprechen.
Im Laufe von zwei Jahren bin ich mehr oder weniger an allen Orten gewesen, an denen ich in meinem bisherigen Leben gewohnt habe. Ich habe jeden bekannten Hügel untersucht, jeden Pfad, jeden Baum und jedes Haus – viele von ihnen konnte ich auch betreten –, ich sprach mit bekannten und fremden Personen, die dort nun wohnten, dort früher gewohnt haben oder die ganze dazwischenliegende Zeit an einem Ort geblieben sind.
Die Route meine Bewegungen kann man auf der Karte nachverfolgen, man kann Abstände messen und versuchen, die Grenzen zwischen Drinnensein und Draußensein in welche Formel auch immer zu zwängen, und von mir aus jeden meiner Sätze in eine mathematisch zu interpretierende Operation umwandeln.
Denn ein Satz ist ja eine Operation zwischen meinen Gefühlen und einem möglichst exakten sprachlichen Ausdruck. Wahrscheinlich ist dieser Blick von außen für die Interpreten für irgendetwas notwendig, nur von mir selbst weiß ich, dass die Jagdsaison auf Erinnerungen begonnen hatte und die Spuren des metaphysischen Opfertiers eröffneten sich nur innerlich, im Weg selbst, der in seiner ehemaligen Form vielleicht gar nicht mehr existierte. Häufig gab es nicht einmal Hinweise darauf oder eine Spur von ihnen.
Die Orte überlagern einander, bis es einen Ort der Orte gibt, einen Überort, eine formverändernde lokale Einzahl. Die Landschaft formt sich unter dem Druck der Stimmungen zu einer Überlandschaft um. Nur bisweilen im Traum erzeugt es keine Verwunderung, wenn Grenzen in andere Grenzen übergehen und sich Jahreszeiten in ihr Gegenteil verkehren, denn ein Traum erkennt eine periodisierte Zeit und kontrastierende Tiefe nicht an.
Alles ist in ein und demselben Moment hier an Ort und Stelle, nebeneinander, die alte Jugend, das junge Alter, Ich-Erinnerungen aus vielen Lebensaltern kreuzen sich, werfen ein durchdringendes Licht aufeinander, als würde eine Welt geschaffen mit allem, was auch immer man auf ihr finden kann, hier an Ort und Stelle zu einem alles kennenden Blick, der einen Sinn erhalten hat.
Als hätte man an den Kaatas/Sannas immer noch nicht genug, als würde ich mit jedem altneuen Ort testen, ob es wirklich so war, wir Kaata durchschimmern ließ oder Sanna erklärte.
Entspricht das Bild, das sich selbst schon symbolträchtig gestaltete, Sannas eigenem inneren Gefühl oder nicht, und besteht für mich irgendwann die Hoffnung, auch nur die Ränder eines Zeitraums, den ich bis zum Unverständnis vergessen habe, zu erhaschen?
Doch war mein Eifer mit den Jahren erkaltet, was als Bild oder Symbol übrig blieb, blieb einfach, als würde ein längst gestorbenes Pferd immer noch am Koppeltor gegenüber dem Haus stehen, wenn du den ehemaligen Standort dieser Koppel oder die Ruine des Hauses betrachtest.
Schon das Wetter war auf dieser Rückfahrt sonderbar: Der Herbst übergoss einen mit Farben und Regen, hinter unserem Rücken und auch über dem Kopf war der Himmel dunkelblau-schwarz, vorne flammte der goldgelbe rötliche Schein der untergehenden Sonne auf.
Wir fuhren der Dunkelheit und dem Unwetter davon, nach hinten und zur Seite warf unser Auto lange, dunkle Schatten.
Als wir an dem restaurierten Gutshaus vorbeikamen, sahen wir hinter der Parkmauer auf der infolge des düsteren Himmels dunkelgrün, eigentlich schwarzgrün anmutenden Wiese eine vielköpfige Schafsherde.
In dieser Landschaft bewegte sich kein einziger Mensch.
Aber als wir hinter der schon bekannten Straßenkurve vor dem Haus hielten, wurden wir von einem anständigen Herbststurm erwischt: Bunte Blätter wirbelten im Wind und dem wie aus Eimern schüttenden, beinahe waagerechten Regen, die Birken wurden niedergedrückt, nur damit die biegsamen dicken Stämme ihre Äste wieder aufrichten konnten, auf und nieder warfen sich die Bäume, die unverschalten Wände des Blockhauses waren mit einem Mal schwarz, die Fensterscheiben troffen vom undurchsichtig gewordenen herbstlichen Wasser.
Das Auto – dieser künstliche vierrädrige Käfer – kauerte mitten auf dem Hof, der Motor brummte leise in der Wärme, und der Körper des Autos, das Dach und die Wände knatterten unter dem peitschenden Regen, als wollte der Himmel uns hier an Ort und Stelle in die Erde drücken.
Vorwegnehmend könnte ich sagen, dass ich an so einen Ort, genau bei solchem Wetter zum Sterben gekommen war. Aber damals wusste ich das noch nicht.
Ich habe dieses Haus am Straßenrand in etlichen Zusammenhängen beschrieben, die Bewohner mal so, mal so genannt, Bewohner aus dem Haus entfernt und neue hinzugefügt, so dass es in meinen Vorstellungen und meinen Erzählungen längst den Zusammenhang mit dem realen Haus verloren hat, während aber seine Koordinaten in der Landschaft immer ein und dieselben geblieben sind.
Dort im Auto und in dem strömenden Regen dachte ich nur daran, wie ich mit trockener Haut ins Haus gelangen könnte.
Die Tür war verschlossen, niemand war zuhause. Wir warteten.
Zwischen zwei Regenschauern verließ ich einmal kurz das warme Auto, ich berührte die runzeligen Stämme der alten Birken – ich habe sie aus dem Haus heraus, mit dem Rücken an der warmen Mauer vor fünfzig und mehr Jahren stundenlang betrachtet, die Muster der runzeligen Stämme hatten Landschaften und Gesichter geformt, und sie summten wortlose Lieder vor sich hin in einer Melodie, die nur sie kannten –, nun war unter meiner Hand nur die zerfurchte und von Mal zu Mal glatter werdende Birkenrinde, das Äste biegende Unwetter. Kein einziges Bild. Sie sind in dem Blick aus dem Zimmer nach draußen geblieben, auf der Achse des Blicks, aber da im Zimmer war ich nicht mehr und würde ich auch nicht mehr sein, wenn die Bewohnerin nach Hause kommen sollte.
Als wir gerade wieder aufbrechen wollte, bemerkte der Fahrer die Katze. Sie war groß und weiß und nahm trotz des Regens dicht an die Hauswand gedrückt an der Tür Wartestellung ein.
Frauchen kommt, sagte der Fahrer. Wir warten auch.
Der Regen ließ nach. Der Bus traf ein. Ich ging der vom Bus Kommenden entgegen.
Als die Bewohnerin den Schlüssel aus ihrer großen Einkaufstasche nahm, strich die Katze mit aufgerichtetem Schwanz um unsere Füße und gab fordernde Laute von sich.
Der Schlüssel war ein ungefähr zwanzig Zentimeter langer Eisenkoloss, der an einen alten Speicherschlüssel erinnerte, vielleicht war er das auch, und die Bewohnerin schob ihn ins Schloss.
Ja, der hier ist vom Anfang des Jahrhunderts, damals hat mein Onkel dieses Haus gebaut. Ein gutes, sicheres Schloss, solche werden heute nicht mehr gemacht.
Ich musste an ein anderes Schloss denken, was tatsächlich zu einem Speicher gehörte. 1870 war einer meiner vermeintlichen Ururgroßväter gestorben, dessen zweite Frau von ihrem Stiefsohn gerichtlich die Herausgabe des Speicherschlosses einforderte. Der Fall war besonders, weil die ganze auf Annahmen aufgebaute Verwandtschaftslinie keinerlei weitere Informationen über die Vorfahren preisgab: Sie hatten nicht gezankt, gestohlen oder sich über jemanden beschwert, so dass ihre physische Existenz vielleicht durch die Protokolle des Gemeindegerichts biografische Unterstützung bekommen hätte, und dann hatte plötzlich eine Mari einen Mann, der vom Familiennamen her zu mir passte, vor Gericht gebracht.
Im Laufe von hundert Jahren ein einziger Prozess – und auch der wegen des Familiennamens von Mari, den sie selbst zu Protokoll gab, zweifelhaft, wenn sie nicht sofort nach dem Tod ihres Mannes erneut geheiratet hat –, und der Grund dafür war eben dieses Speicherschloss.
Mari hatte sogar einen Zeugen zum Gericht mitgebracht, der mit Sicherheit sagen konnte, dass das Schloss beim Schmied in Paduvere bestellt war. Der Stiefsohn stritt vor Gericht gar nichts ab, sagte nur, dass es genauso sei, und er würde der Stiefmutter die Kosten erstatten. Die Kostenerstattung war vermutlich schon vor der Verhandlung erfolgt, denn das Gericht bestätigte, dass die Aktion vollzogen sei und die Parteien keinerlei gegenseitige Forderungen mehr hätten.
Vermutlich wäre mir der besondere Schlüssel und das Schloss ohne die hundertfünfunddreißig Jahre zurückliegende Gerichtsverhandlung gar nicht aufgefallen: Es gibt immer vereinzelte, uralte Dinge um uns herum, die seltsam anmuten und ansonsten nur noch im Museum zu finden sind. Erst im Protokoll lesen – ohne Protokoll hätte ich ja gar nicht an ein schmiedeeisernes Schloss denken können –, dann das zufällig in einer anderen Realität bemerken und Nachhilfestunden im Leben der Museen und Reservate nehmen.
Die Haustür war dick und massiv ausgekleidet, so dass das stämmige Schloss dort wie in einer Festung saß. Ich wunderte mich darüber, dass ich einst zurück nach Hause wollte, während ich hinter einem solchen Schloss saß.
Innen befindet sich ein schmiedeeiserner Haken, dachte ich, während ich hinter dem Rücken der Bewohnerin stand, und als die Tür endlich offen war, sah ich, dass es auch den Haken noch gab. Ich bekam ein Gefühl, dass das ganze vorvorletzte Jahrhundert hier Gestalt angenommen hatte und anwesend war.
Von außen betrachtet kam einem das Haus klein vor, als ich drinnen mit Erlaubnis der Bewohnerin von Zimmer zu Zimmer schritt, bewunderte ich die zweckmäßige Geräumigkeit der Zimmer: An den Wänden Schränke und mitten im Zimmer sogar ein bisschen so etwas wie Luft.
Ja, der Onkel konnte bauen. Früher wurden sogar die Balken eines Hauses zu einer bestimmten festen Zeit im Wald gefällt, man baute nach gewissen damals bekannten Künsten. Renovierungen sind am Haus kaum durchgeführt worden.
Wir haben einander gewiss fünfzig Jahre nicht gesehen?
Nein. Wirklich nicht, und doch habe ich ein Gefühl, als wäre ich gestern hier gewesen.
Du bist immer noch dieselbe, ich habe dich sofort erkannt. Wie du so über die Straße zur Bushaltestelle kamst, da sah ich, dass du es warst.
Wir haben das gleiche Haar und die gleiche Statur, antwortete ich.
Ja, wir sind nah verwandt, sagte die Frau.
Ich konnte nicht ausmachen, an welchem Punkt die Zeit stehengeblieben war. Wahrscheinlich war es zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Die eingestellten Möbel waren von später, aber vermutlich auch nicht im Laden gekauft. Notwendige, praktische Möbel: Die Schränke so, dass etwas in sie reinpasste, sie sich aber nicht in den Vordergrund schoben. Viereckige, glatte Oberflächen. Kräftiges, glanzloses Holz. Wenig Möbel, das anspruchslose Leben der Dinge.
Ich habe nie verstanden, worauf diese Anspruchslosigkeit verwies. Entstammte dieses Asketentum, das einen Gebieter voraussetzte oder sich ihn erhoffte, der Knechtshütte, damit man in einer anderen Zeit und bei veränderter Mentalität „Wacht auf, Verdammte dieser Erde“ singen konnte, oder war sie ein Zeugnis der Haltlosigkeit des Lebens nach der Katastrophe.
Denn Anfang des 20. Jahrhunderts wurden in Estland und Livland die Güter aufgelöst, die Identität der den Deutschen dienenden, dem Landvolk entwachsenen Zwischenschicht war in Zweifel gezogen worden. Das erst im Entstehen begriffene Nationalgefühl schwor einer möglicherweise erdachten urzeitlichen Freiheitszeit die Treue, als deren Verräter sich in den Augen des neuen Geschichtsbewusstseins jetzt die gutstreuen Diener erwiesen. Dass unsere ersten Intellektuellen die Nachkommen eben gerade dieser Zwischenschicht waren, geriet in Vergessenheit. Vielleicht weil sie schließlich die Vorkämpfer der neuen Zeit waren. Sie schienen sich nicht einmal selbst Rechenschaft darüber abzulegen, dass ihr Aufstand gegen die patriarchalische Herrentreue der vorangegangenen Generation die Grundlage für die Herausbildung eines Nationalbewusstseins war.
Ich habe gar nicht darauf geachtet, ob du wohl einen Kühlschrank hast, fragte ich dann, nachdem die Frau den Tisch notdürftig mit Sülze, Brot und Butter gedeckt hatte.
Doch, doch. Er ist dir in der Küche nicht aufgefallen. Ich habe einen Kühlschrank, einen Fernseher, eine Waschmaschine und ein Radio. Ich habe alles, was ich brauche.
Du bist Rentnerin. Wie kommst du zurecht?
Von der Rente alleine würde ich das auch nicht. Ich habe eine kleine Rente, ich habe nicht viel gearbeitet, die Gesundheit ließ das nicht zu, aber ein Deutschbalte hat mir dreißig Hektar Land geschenkt, wir selbst hatten auch sieben Hektar, ich habe Land verpachtet, davon habe ich ein paar Einkünfte. Das Haus gehört mir, ich komme ganz gut hin, auf die Hilfe der Kinder bin ich nicht angewiesen.
Was für ein Deutschbalte ist das, überlegte ich, der daherkommt und in einem estnischen Dorf eine verwitwete Frau sucht, um ihr Land zu schenken, aber laut gesagt habe ich nichts.
Es gab wenig Bilder. Die Frau hatte alle alten Fotos unter ihren Kindern aufgeteilt, und auf Grundlage der wenigen, die geblieben waren, konnte ich keinerlei Schlüsse ziehen: Die Männer trugen meistens Fliegen, auch gewöhnliche Schlipse, weiße Manschetten, Anzüge, die Frauen in dezenten dunklen Kleidern – es gab auch ein Bild von einem Familientreffen – und kein einziger ernster, sich im Leben emporschuftender kräftiger Landwirt, bei dem die Hände auch in Ruhestellung gezeigt hätten, dass zwischen ihren Fingern normalerweise vielleicht sogar Hufeisen gerade gebogen würden.
Auf einem Foto war die junge Mutter der Bewohnerin mit einem Mann und einer Frau zu sehen.
Wer waren sie?
Der Gutsherr mit seiner Frau.
Dieser kleine Mann mit dem buschigen Schnurrbart ist wirklich der Gutsherr?
Ja, das ist er.
Das war also schon Anfang des Jahrhunderts.
Ja, vermutlich. Meine Mutter ist 1895 geboren, hier ist sie ungefähr achtzehn oder zwanzig, antwortete die Frau.
Was war er dort auf dem Gut?
Oh, das weiß ich nicht. Vielleicht Kartoffelschäler, gab sie etwas wortkarg zurück.
Weiter fragte ich nicht. Wahrscheinlich hätte ich es selbst wissen müssen, aber da ich es nicht wusste, war es sinnlos weiterzufragen. Mir war schon früher aufgefallen, dass die Leute, die auf dem Gut Dienst taten, nicht gerne darüber sprachen. Größere Nähe wurde gänzlich verschwiegen. Die Ideologie von den siebenhundert Jahren Sklaverei hatte ganze Arbeit geleistet. Mit den Unterdrückern gut ausgekommen zu sein, bedeutete noch Jahrzehnte später Schimpf und Schande. Eine ganz andere Sache war die Geschichte vom Recht der ersten Nacht und dem auf diese Weise geerbten blauen Blut. Davon konnte man sprechen, damit konnte man sogar prahlen, denn die Verbindung war nicht freiwillig. Eine erzwungene Freiwilligkeit verlieh einem irgendwie Würde.
Zehn Prozent von uns sind adlig, erläuterte der Vorsitzender einer Abteilung der genealogischen Gesellschaft im Radio, und darin lag eine Wertung: Wenn man das Blut hat, gibt es auch einen Titel. Die höfische Standeskultiviertheit war ja etwas Lächerliches, es reichte vollkommen, wenn der Bauerntölpel mit einer etwas entwickelteren Sorte gekreuzt wurde.
Ich drehte das Foto zwischen meinen Fingern hin und her.
Was ist dieser Gutsherr doch klein und wie lustig ist sein Schnurrbart! Sieht aus wie ein Wels. Aber ich wusste nicht, wie ein Wels wirklich aussieht. So hatte ich nur Worte gebraucht und einen Vergleich verwendet, von dessen Inhalt ich keinen Schimmer hatte.
Nach den Fragen und Antworten, was ich tue, wo ich wohne, wie es den anderen Verwandten gehe, sagte die Frau, während sie mir Fotos ihrer Kinder und Enkel zeigte:
Dein Vater wurde 1955 erschossen.
Dreiundfünfzig, antwortete ich.
Ja, so waren die Zeiten. Von einem einzigen Menschen hing wenig ab. Mein Vater wurde während der deutschen Besetzung zum Fuhrdienst abkommandiert, als die Russen kamen, wurde er dafür hingerichtet. Wir wohnen ja auch so nah an der Straße, da sind wir sofort aufgefallen.
Ich erinnere mich an den Tag, als wir hierherkamen: Vater, Mutter und ich. Die Sonne schien. Der Schnee schmolz bereits. Und die Deportation der Leute aus dem Nachbarhof konnte ich mir vom Küchenfenster aus anschauen.
Sie sind aber zurückgekommen. Nicht alle sind das, sagte die Frau.
Und dann erinnere ich mich, wie Kaata hierher kam. Einmal ist sie wohl vorher schon dagewesen, aber dann kam sie und blieb. Von hier bin ich zur Schule gegangen.
Du weißt doch, dass Kaata nicht deine Mutter ist?
Ob es wirklich Kaata war, dachte ich. Wenn es Sanna nicht gibt – und Sanna gibt es nicht, weil sie von einer anderen Zeit eingefangen wurde: so vollständig eingefangen wurde, dass du es nennen kannst, wie du willst, heraus hört man nichts aus der von einem schwarzen Loch verschluckten Welt –, ja, wenn es Sanna nicht gibt, gibt es Kaata auch nicht. Es ist jemand anders, wie es im Lied heißt, jemand anders wurde zu Grabe getragen, und wir werden nie erfahren, wer es war.
Vielleicht passt Kaata dann als Hülle, in der sich ein bekanntes Skelett verbirgt. Ich befreie jeden Beliebigen durch Namensänderung von der Vergangenheit, ich löse sowohl den zur Welt Kommenden wie den Kranken im Geschehen auf, denn in den Worten sind Höhlungen entstanden, die die Bedeutung verändern, sie sind aus einer relativ gewordenen Welt in die Sprache eingedrungen.
Nicht umsonst schreibt ein fremdländischer Gesandter und Spion, dass der Folterknecht und der Gefolterte, der Deporteur und der lebendig von der Deportation Heimgekehrte freundschaftlich nebeneinander leben, sie bekommen vom gemeinsamen Staat Gerechtigkeit und Lebensversicherung zugeteilt, das Reich der Vernunft ist auf die Erde niedergekommen, in diesem Land blüht die Demokratie. (Löwe und Lamm grasen nebeneinander. Sie haben keinerlei Absicht, sich gegenseitig zu fressen.)
Hier gelang es uns, wir sind ja schließlich Menschen, überraschend schnell, einen Frieden zu finden. Hier ist nicht das Nachkriegsdeutschland, Nürnberg ist sowieso eine Farce geworden, wo ein Henker über einen Henker urteilte, und der alles begreifende Chor bestätigte die entleerte Gerechtigkeit mit einer wahlweisen Bestrafung und dem Tod.
Ich möchte mir diesen Hohlraum des Verstandsglaubens von innen heraus betrachten, dachte ich weiter, denn ich kann ja nicht sagen: Ich bitte um Verzeihung, dass du mich töten musstest, und mich tröstet auch nicht die Antwort, dass der Mörder immer mehr leidet als das Opfer.
Wir versöhnten uns so schnell, weil wir uns entschlossen haben, als Tote weiterzuleben. Wir sind ein kleines Volk, das, um am Leben zu bleiben, im Laufe der Zeiten gelernt hat, sich mit Scheunenvogten und Schraten anzufreunden und einander heimlich Bedeutungen und Worte zu stehlen.
Du weißt doch, dass Kaata nicht deine Mutter ist, hatte die Frau vor einer Weile gefragt.
Natürlich weiß ich das, antwortete ich verdutzt.
Woher kam dieser Satz rausgerutscht? Hat Kaata tatsächlich einmal gesagt, dass ich ihr Kind sei? Die Stille hielt lange an, die Frau sammelte sorgfältig die Fotos zusammen, die für genügend Gesprächsstoff gesorgt hatten, und ich überlegte, dass ich zwei wichtige und unerwartete Neuigkeiten gehört habe. Beide betrafen Kaata.
Inwiefern sie seltsam war? Kaata war die einzige, deren Befragung ich abgebrochen hatte. Mit ihr passierte immer irgendwas, sie berichtete von den Wechselfällen ihres Lebens auf sehr unterschiedliche Weise, so dass ich am Ende immer ganz müde vom Zuhören wurde und niemals die Geduld hatte, bis auf den letzten Grund vorzudringen.
Außerdem haben auch die Verwandten ihre Art und Weise zu reden, die die Ereignisse immer aufbauschte, nicht ernst genommen. Kaata redete sich alles von der Seele, redete auch über Dinge, die es nicht gab, sie war die Plaudertasche der ganzen Verwandtschaft, die auch häufig über sich selbst lachte. Mir zu vertrauen, damit muss man vorsichtig sein, hatte sie manchmal gesagt, ich merke es selbst nicht, wenn ich mit meinen Ausführungen zu weit gehe.
Aber mein Verwandter, den ich nach einem halben Jahrhundert gefunden hatte, war in seinen Aussagen über sich so knapp wie ich selbst. Er machte eine Bemerkung, erläuterte aber auch auf Nachfragen nicht, was er damit eigentlich meinte. Ein Ausspruch war ein Zeichen, dass er etwas bemerkt hat, und es war Sache des Zuhörers, bei dem Gesagten nachzuhaken oder nicht.
Mein nächstes Ziel war jetzt Kaata.
Übersetzt von Cornelius Hasselblatt
1. Kapitel
Er wirkte wie eine dunkle Wolke, eine Sonnenfinsternis am Himmelszelt, der Bronzesoldat in Tõnismäe, um den die estnische Polizei ein Absperrband gespannt hatte, das den Platz vom Rest der Stadt abschirmte. Die Statue des sowjetischen Soldaten musste geschützt werden, damit sie nicht den Hass zwischen den Nationen schürte. Aber gerade das Band selbst erzeugte, im Verbund mit den den Platz bewachenden Polizisten, das Gefühl, als hätte man das Rad der Zeit zurückgedreht.
Der Bronzesoldat war ein Denkmal der Besetzer und wurde ‚Der Befreier‘ genannt. An Feiertagen zur Festigung der Sowjetmacht wurden zu seinen Füßen Kränze und Blumen abgelegt, auf dem Platz wurden Staatsakte abgehalten.
Als Estlands Selbstständigkeit wiederhergestellt wurde, verlor das Denkmal seinen offiziellen Status und wandelte sich zu einem Treffpunkt für Veteranen des Großen Vaterländischen Krieges. Man tauschte dort Fronterinnerungen aus, tanzte, sang und trank Wodka. Das Fest fand im Mai eines jeden Jahres statt und zeigte durch seinen veränderten Charakter deutlicher als alles andere, dass die vergangenen Zeiten vorbei waren.
Bis eines Frühlings estnische Nationalisten mit ihren blau-schwarz-weißen Fahnen bei dem von Roten Fahnen umsäumten Denkmal auftauchten. Das wirkte für die Gegenseite wie eine Grabschändung, obwohl man auch ein halbes Jahrhundert danach noch nicht sicher weiß, ob in der Nähe des Platzes überhaupt jemand begraben war. Nach einem erhitzten Gedankenaustausch, bei dem estnische Flaggen zerzaust wurden, griff die Polizei ein und sperrte den Platz mit einem Flatterband ab.
Ich wunderte mich selbst, dass der vom Absperrband umsäumte Platz auf mich wie eine Abschirmung wirkte, als handele es sich um einen Tatort, der erst noch untersucht werden musste. Als im Interesse des Hausfriedens kein einziger estnischer oder russischer Fuß mehr das abgeschottete Gebiet betreten durfte, brach eine leidenschaftliche Diskussion darüber los, ob man den Bronzesoldaten am selben Ort belassen oder an einen weniger auffälligen Ort bringen sollte. Die einen forderten eine Beseitigung des Bronzesoldaten, die anderen verteidigten die symbolträchtige Figur und plädierten für ihr Bleiben, wieder andere schlugen vor, an derselben Stelle ein Monument zur Ehrung aller in russischer oder deutscher Uniform gefallener Männer zu errichten. Dann wäre die Trauer über die Verluste auf beiden Seiten für alle verständlich.
Das von der estnischen Polizei verordnete Annäherungsverbot machte den Platz zu einem heiligen Ort. Ein auf Negation gegründeter Schutz, eine Heiligkeit, die Bedeutungen auslöschte. Mit jedem Tag, an dem keine Entscheidung fiel, stiegen die Spannungen.
Am Krieg der Symbole nahmen bereits die Kinder und Kindeskinder der Gefallenen teil, die den Krieg oder die Nachkriegszeit nicht einmal mit eigenen Augen gesehen hatten.
In den Diskussionen wurde immer betont, man dürfe die Gefühle der Sieger und ihrer Nachfahren nicht verletzten. Man dürfe keine Wunden aufreißen, hieß es dann delikat.
Ich hörte mir diese Streitgespräche an und glaubte meinen Ohren nicht zu trauen. Ich schaute von Monat zu Monat auf den polizeilich bewachten Platz und glaubte meinen Augen nicht zu trauen. Ich hatte das Gefühl, als würde mitten auf diesem für unberührbar erklärten Flecken Erde ein Machthaber vergangener Zeiten eine unterbrochene Rede fortsetzen, wir sehen ihn nicht, weil er eine Tarnkappe trägt, aber der Moment, in dem aus seinen anschwellenden Worten Hass und Streit auflodern, ist so gut wie angebrochen.
Muss man, um die Bedeutung vergangener Ereignisse im Kern zu verstehen, sie in einem Bild wiederherstellen, das wie eine Theatervorstellung anmutet, fragte ich mich, als die Trauerpose des Bronzesoldaten als Gespenst zu Leben erwachte.
Schicksale, die aus dem Scheintod in der Realität gelandet sind, gab es ohnehin zur Genüge.
Im Frühjahr, als die feierliche Bewachung des Bronzesoldaten begann, schrieb das Eesti Päevaleht:
Enn Saarse (68), Sohn eines Offiziers der estnischen Vorkriegsrepublik, der infolge sowjetischer Repressionen seine Identität verloren hat, ist von Recht und Gerechtigkeit des estnischen Staates enttäuscht.
Der dreijährige Sohn von Aleksander Saare, dem ehemaligen Adjutanten eines Kommissars der estnischen Polizeiakademie, geriet am 14. Juni 1941 als Repressionsopfer in russische und deutsche Lager und lebte seitdem als Waise mit falschem Geburtstag und falschem Namen. Im Jahre 1990 fand der Mann, der annähernd 50 Jahre als Nikolai Sarsin gelebt hatte, seine wahre Herkunft und seinen richtigen Namen.
1994 erhielt Saarse von der Estnischen Republik im Zuge der Rechtsnachfolge die estnische Staatsangehörigkeit und einen Pass. Sein kompliziertes Leben, das mittlerweile über eine Doppelidentität verfügte, ging aber weiter – unter dem Namen Nikolai Sarsin hat er auch die russischen Staatsangehörigkeit, und er lebt mit seiner Gattin hauptsächlich in Kaliningrad (dem ehemaligen Königsberg).
Saarse versuchte jahrelang Gerechtigkeit zu erlangen und in Tallinn eine Wohnung und eine estnische Rente zu bekommen. „Ich weiß nicht, an welche estnische Instanz er sich noch nicht gewandt hat“, sagte Saarses Sohn Aleksandr, der Oberleutnant bei den Estnischen Streitkräften ist.
Ohne langen Prozess ist es dem betagten Mann nicht gelungen, von Estland eine Rente zu erhalten. Lettland und Russland zahlten ihm eine Teilrente (weil der Mann in beiden Ländern gearbeitet hat), aber von Estland erhielt er nichts.
Ende letzten Jahres erfolgte der Gerichtsentscheid, demzufolge ihm als Repressionsopfer für die Jahre 1941 bis 1956 eine dreifache Rente zustehe. Saare hält das aber nicht für gerecht, weil seiner Meinung nach die Repression bis zum Jahre 1990 andauerte, als er endlich erfuhr, wer er war.
Nach Bewertung diverser Gerichte und Beamter sehen die estnischen Gesetze eine solche Variante nicht vor. Ab dem Jahr 1957 hätten diejenigen, die unter den Massendeportationen gelitten haben, nach Estland zurückkehren können. Wer in Russland blieb, blieb sozusagen freiwillig. „Wie kann ich freiwillig geblieben sein, wo ich nicht wusste, wer ich war und woher ich stammte!“, bemerkt Saarse dazu zutiefst empört. Nach der Entscheidung des Tallinner Kreisgerichts von dieser Woche kann er sich noch an den Estnischen Staatsgerichtshof wenden.
Saare betont, in seine ehemalige Heimat zurückkehren zu wollen. Er hat zwar auch momentan seinen offiziellen Wohnsitz in Tallinn, aber das ist die Zweizimmerwohnung, die die Familie seines Sohnes, eines Offiziers der Estnischen Streitkräfte, gekauft hat. (…) Gelitten hat er außerdem, weil er kein Estnisch spricht, sondern die estnischen Beamten bittet, mit ihm auf Russisch zu verkehren.
Wie kann man einem Mann helfen, der sich nach seiner verlorenen estnischen Heimat sehnt und dies in der Sprache derer tut, die seine Heimat vernichtet haben?
Wie verhält man sich denen gegenüber, die den Fall folgendermaßen kommentieren: Wurzeln sind eine Sache, aber de facto handelt es sich hier um einen typischen Sowjetbürger, der nicht einmal Estnisch kann. Was will er hier?
Ein zweiter Kommentator fügt hinzu: Ich begreife wahrlich nicht, wieso Estland ihm eine Rente zahlen sollte. Ist Estland für das Elend dieses Mannes verantwortlich? Wenn überhaupt, dann soll Russland zahlen.
Ein dritter Kommentator fragt: Wie kann ein Mann in den Estnischen Streitkräften dienen, dessen Vater von Recht und Gerechtigkeit des estnischen Staates enttäuscht ist?
2. Kapitel
Wurden zu wenige von uns umgebracht, frage ich mich, sind nicht hinreichend viele von uns getötet worden, wiederhole ich die Frage, während ich gleichzeitig den Mann mittleren Alters im Sessel vor mir im Auge behalte. Ob es mein Vetter von einem Onkel oder einer Tante oder der Sohn der Tochter einer Großtante ist, hat an dieser Stelle keine Bedeutung, auf jeden Fall ist er ein Verwandter mütterlicherseits.
Gleich muss ich mir einen Namen für ihn ausdenken – das Leben hat meine Leidenschaft hinsichtlich falscher und richtiger Namen im Laufe der Jahre deutlich abgekühlt. Namen kann man wechseln wie Kleider, wie Strümpfe, wenn man Schweißfüße bekommen hat, denn die Zeiten sind so, dass du für den Preis eines Butterbrotes, der sich zum Beispiel auf vierzigtausend beläuft, zweihundert Millionen kaufen kannst, wenn die Dinge zusammenfallen, kannst du ebenso günstig eine so oberflächliche Kleinigkeit wie eine Biografie, eine Namen, eine entsprechend geänderte Identität bekommen. Gewaltsame Veränderungen hat es ohnehin gegeben. Über Millionen sprechen wir hier natürlich nicht.
Auf jeden Fall ist der Kauf eines Namens und einer Identität weitaus billiger als der augenscheinlich inadäquate Eintausch der Geldscheine.
Wenn du ein König bist, vermagst du alles. Am stärksten ist die Leidenschaft bei selbst ernannten Königen, Bluts- und Traditionsbande verblassen daneben wie der Schnee vom letzten Winter, an dessen Farbe man sich nicht einmal mehr erinnern kann.
Denn alles ist gestattet. Wesentlich ist, dass alles gestattet ist, wenn du das Ausmaß der Möglichkeiten begreifst. Es ist geschmacklos, um Wahrheit und Recht, um ethisches und unethisches Handeln zu streiten, wenn das Gesetz nichts dazu sagt. Gesetze haben bekanntlich Lücken wie Käse Löcher. Um sie zu bemerken, muss man ein Auge haben. Die Löcher sind das Kennzeichen der Qualität eines Käses.
Wenn ich ein Loch im Käse bin, gebe ich jemandem die Möglichkeit. Mich kann man in technisch hochstehenden Labors fälschen. Wir sind hierzulande Meister im Vervielfältigen von Dokumenten, versuch mal herauszubekommen, wo ich bin oder du, er oder ein Esel: das Bild stimmt, die Legende ist an ihrem Platz und die Echtheit der Sicherheitselemente der Dokumente wird von den Kontrollapparaten fast immer bestätigt.
Freilich – nur bis zu dem Moment, an dem man einen Fehler entdeckt, der auf die künstlerische Ader der bewundernswerten Meister verweist. Ohne diesen Fehler bliebe die Kunst der Meister anonym und das Verlangen, ihre Unternehmung zu wiederholen, käme den Nachahmern überhaupt nicht in den Sinn. Die Unmöglichkeit muss wenigstens einmal das Potenzial zeigen, das die Möglichkeit für einen künstlerischen Höhenflug in sich birgt, und das äußert sich nur in einem entdeckten Fehler.
Der Mann heißt Arp, dachte ich im selben Moment, als sein Blick aus dem Sichtfeld herauszufließen begann und sich in mich bohrte, ich sah geradezu, wie er sich aus dem Sessel erhob, um die uns trennende Distanz zu überwinden. Ein Schattenkörper hatte sich von dem im Sessel sitzengebliebenen Körper gelöst, er war so nahe, dass er mich jeden Moment berühren konnte.
Heißt du Archippos oder Arp, fragte ich plötzlich.
Der Schattenkörper bewegte sich als kaum merklicher Wellenhauch zurück: Im Sessel saß ein Mann mit düsterem, abwesenden Blick und versteinertem Gesichtsausdruck.
Arp. Es musste ein estnischer Name sein.
Vor einem Jahr war die Feuerbestattung von Kaata. An ihrem Geburtstag, also vier Monate vor ihrem Tod, erzählte Kaata, dass sie sich nicht sicher war, ob sie eine Erd- oder eine Feuerbestattung wollte. Feuer tut weh. Ich habe irgendwie Angst vorm Feuer, obwohl ich weiß, dass ich dann wohl (?) nichts mehr fühle. Eine Erdbestattung wiederum ist teuer. Ich möchte, dass mein Sohn möglichst wenig Scherereien mit mir hat. Er hat so viel zu tun.
Ärni haben wir durchaus im Sarg begraben und neben Mutter. Ein schöner trockener Ort war es. Der Sohn suchte den Pastor aus. Die Ansprache war sehr schön.
Ich war wohl ein bisschen so wie Kaata, als ich das so sagte. Arp schaute und schaute bloß, mit Augen wie Kugeln. Diese Augen waren das ganze Treffen lang so eigenartig.
Und er hat sich nicht ein einziges Mal bewegt. Ich wundere mich bis heute, dass Arp sich kein einziges Mal bewegte, er war wie aus Stein, er war ein Standbild.
Dann fiel mir dieser Satz ein, dass zu wenige von uns umgebracht wurden, der Satz war im Plural, obwohl er sich auf mich zu beziehen schien.
Bin ich im Plural, überlegte ich. Sieht (oder sah) Arp, dass ich im Plural war?
Später unterhielten wir uns noch über das eine oder andere, über das Wetter und das Land, Gott und die Welt – hauptsächlich war ich es, die redete, deswegen erinnere ich mich auch nicht mehr daran, was genau ich redete –, und Arp saß schweigend da und redete, ohne den Mund zu bewegen, ohne den Arm zu heben, der Leib verharrte auf der Stelle, obwohl es Momente gab – diese Momente schienen die ganze Zeit auf dem Sprung zu sein – ja, es gab Momente, in denen sein Körper aufstehen und kommen wollte, aber jedes Mal erwischte Arp das sich vom Körper lösende Selbst gerade noch am Rockschoß, so dass ich nur den Ansatz zum Kommen sah, nicht mehr das Kommen selbst, und ich redete und redete und Arp hörte zu und ich hörte meinem Reden zu und abgesehen von Angst verspürte ich nichts bei diesem Treffen.
SO REDETE KAATA AUCH EINST MIT MIR.
Mitten in einem schneelosen November, während sie durchs Fenster den verwilderten Garten und die erfrorenen Äpfel an den Ästen betrachtete, erzählte Kaata, dass sie den Garten jetzt völlig anders einrichten wollte.
Ich dachte mir, dass ich im Frühjahr die Apfelbäume hier fällen werde, komm guck mal, sagte sie zu mir, während sie auf Stock und Tisch gestützt dastand, siehst du, den da – Kaata stach mit dem Stock beinahe durch die Scheibe –, der trägt zwar schön, aber jetzt erntet niemand die Äpfel, man kann sie gar nicht alle essen, und sie zu entsaften schaffe ich auch nicht mehr, und den anderen da, schau, dort neben dem Komposthaufen, das Gestrüpp da in der Ecke, den fälle ich.
Und dann säe ich Gras und pflanze Blumen.
Noch mehr Blumen?
Ja, noch mehr Blumen, damit man zu jeder Jahreszeit was Blühendes im Garten hat, damit man Farben hat, viele helle frohe Farben, ich habe von dem derzeitigen Schwarz und Braun die Nase voll, graues, diesiges, grässliches Wetter, aber – Kaata hielt einen Moment inne und schmunzelte – ich muss für die milde Witterung dankbar sein, im Schuppen ist wohl nicht besonders viel Holz.
Nein.
Siehst du, dies grauschwarze Wetter hat auch sein Gutes. Ich fürchte mich regelrecht vor dem Winter, vor Frost habe ich am meisten Angst.
Mich juckte es, etwas anderes zu fragen, ich wurde ganz kribbelig und wollte das Gespräch an mich reißen und steuern, während Kaata immer noch Blumen und Hecken pflanzte, die beiden Kalksteinplatten mit dem Riss auswechselte, die auf dem Weg von der Gartenpforte zum Haus dermaßen ins Auge stachen, dass Kaata niemals das Haus betreten konnte, ohne sie zu sehen.
Selbst wenn ich meine Augen gar nicht auf die Platten richte, sogar so tue, als wüsste ich gar nicht, dass sie existieren, sehe ich sie doch. Das ist so eine fixe Idee von mir, dass sie nicht auf meiner Route sein dürfen.
Und was habe ich sie seinerzeit doch sorgfältig ausgesucht, als ich sie kaufte, Kaata sehnt sich noch im Nachhinein, ich wollte, dass dieser Garten bis in den letzten Winkel hinein in Ordnung wäre, jauchzt sie und tickt mit ihrem Stockende aufgeregt auf den Fußboden. Ich wollte, dass mein Garten der allerschönste wäre.
Du hattest einen schönen Garten, du hattest wirklich einen schönen Garten, beeilte ich mich einzuwerfen.
Aber jetzt nicht mehr, ich bin faul geworden, und Kaatas aufgesetztes Lächeln ist Spott und Bedauern zugleich.
Das Licht sickert träufelnd von den Zweigen, wie immer wird der Himmel ganz unerwartet und plötzlich dunkel. Wir stehen vor dem hervorstechenden Glanz der Fensterscheiben und können weder drinnen noch draußen etwas erkennen.
3. Kapitel
Die Grenze von Wäldern, Landschaften, Häusern, Gärten und Lichtern offenbaren sich dem Blick – oder ist es der Blick, der sie dem bewusst machenden und interpretierenden Verstand offenbart – zögernd, so dass man sich daran gewöhnen kann, dass sie da sind und in sich selbst geschlossen: Du siehst, wie sich etwas endgültig annähert, und wunderst dich doch, dass es plötzlich da ist, hier und jetzt, und du selbst stehst auf der einen oder der anderen Seite und nur in der Einbildung auf beiden gleichzeitig.
Ich bin aus West-Virumaa zu Kaata gekommen, genauer gesagt: aus dem Virumaa meiner Kindheit. Damals wurde der Landkreis noch nicht in Ost und West eingeteilt. Der mit einem Bindestrich bezeichnete Trennstrich war noch unbekannt.
Es war gerade das Gutshaus von Vakeristi und die Dörfer in seiner Umgebung, die den Beginn meiner Jagdperiode bezeichneten (bezeichNEN). Dieser Berufswechsel ist gerade erst passiert und frisch, aber doch schon ein wenig vergangen, weil ich in der Lage bin, ihn von außen zu betrachten und darüber zu sprechen.
Im Laufe von zwei Jahren bin ich mehr oder weniger an allen Orten gewesen, an denen ich in meinem bisherigen Leben gewohnt habe. Ich habe jeden bekannten Hügel untersucht, jeden Pfad, jeden Baum und jedes Haus – viele von ihnen konnte ich auch betreten –, ich sprach mit bekannten und fremden Personen, die dort nun wohnten, dort früher gewohnt haben oder die ganze dazwischenliegende Zeit an einem Ort geblieben sind.
Die Route meine Bewegungen kann man auf der Karte nachverfolgen, man kann Abstände messen und versuchen, die Grenzen zwischen Drinnensein und Draußensein in welche Formel auch immer zu zwängen, und von mir aus jeden meiner Sätze in eine mathematisch zu interpretierende Operation umwandeln.
Denn ein Satz ist ja eine Operation zwischen meinen Gefühlen und einem möglichst exakten sprachlichen Ausdruck. Wahrscheinlich ist dieser Blick von außen für die Interpreten für irgendetwas notwendig, nur von mir selbst weiß ich, dass die Jagdsaison auf Erinnerungen begonnen hatte und die Spuren des metaphysischen Opfertiers eröffneten sich nur innerlich, im Weg selbst, der in seiner ehemaligen Form vielleicht gar nicht mehr existierte. Häufig gab es nicht einmal Hinweise darauf oder eine Spur von ihnen.
Die Orte überlagern einander, bis es einen Ort der Orte gibt, einen Überort, eine formverändernde lokale Einzahl. Die Landschaft formt sich unter dem Druck der Stimmungen zu einer Überlandschaft um. Nur bisweilen im Traum erzeugt es keine Verwunderung, wenn Grenzen in andere Grenzen übergehen und sich Jahreszeiten in ihr Gegenteil verkehren, denn ein Traum erkennt eine periodisierte Zeit und kontrastierende Tiefe nicht an.
Alles ist in ein und demselben Moment hier an Ort und Stelle, nebeneinander, die alte Jugend, das junge Alter, Ich-Erinnerungen aus vielen Lebensaltern kreuzen sich, werfen ein durchdringendes Licht aufeinander, als würde eine Welt geschaffen mit allem, was auch immer man auf ihr finden kann, hier an Ort und Stelle zu einem alles kennenden Blick, der einen Sinn erhalten hat.
Als hätte man an den Kaatas/Sannas immer noch nicht genug, als würde ich mit jedem altneuen Ort testen, ob es wirklich so war, wir Kaata durchschimmern ließ oder Sanna erklärte.
Entspricht das Bild, das sich selbst schon symbolträchtig gestaltete, Sannas eigenem inneren Gefühl oder nicht, und besteht für mich irgendwann die Hoffnung, auch nur die Ränder eines Zeitraums, den ich bis zum Unverständnis vergessen habe, zu erhaschen?
Doch war mein Eifer mit den Jahren erkaltet, was als Bild oder Symbol übrig blieb, blieb einfach, als würde ein längst gestorbenes Pferd immer noch am Koppeltor gegenüber dem Haus stehen, wenn du den ehemaligen Standort dieser Koppel oder die Ruine des Hauses betrachtest.
Schon das Wetter war auf dieser Rückfahrt sonderbar: Der Herbst übergoss einen mit Farben und Regen, hinter unserem Rücken und auch über dem Kopf war der Himmel dunkelblau-schwarz, vorne flammte der goldgelbe rötliche Schein der untergehenden Sonne auf.
Wir fuhren der Dunkelheit und dem Unwetter davon, nach hinten und zur Seite warf unser Auto lange, dunkle Schatten.
Als wir an dem restaurierten Gutshaus vorbeikamen, sahen wir hinter der Parkmauer auf der infolge des düsteren Himmels dunkelgrün, eigentlich schwarzgrün anmutenden Wiese eine vielköpfige Schafsherde.
In dieser Landschaft bewegte sich kein einziger Mensch.
Aber als wir hinter der schon bekannten Straßenkurve vor dem Haus hielten, wurden wir von einem anständigen Herbststurm erwischt: Bunte Blätter wirbelten im Wind und dem wie aus Eimern schüttenden, beinahe waagerechten Regen, die Birken wurden niedergedrückt, nur damit die biegsamen dicken Stämme ihre Äste wieder aufrichten konnten, auf und nieder warfen sich die Bäume, die unverschalten Wände des Blockhauses waren mit einem Mal schwarz, die Fensterscheiben troffen vom undurchsichtig gewordenen herbstlichen Wasser.
Das Auto – dieser künstliche vierrädrige Käfer – kauerte mitten auf dem Hof, der Motor brummte leise in der Wärme, und der Körper des Autos, das Dach und die Wände knatterten unter dem peitschenden Regen, als wollte der Himmel uns hier an Ort und Stelle in die Erde drücken.
Vorwegnehmend könnte ich sagen, dass ich an so einen Ort, genau bei solchem Wetter zum Sterben gekommen war. Aber damals wusste ich das noch nicht.
Ich habe dieses Haus am Straßenrand in etlichen Zusammenhängen beschrieben, die Bewohner mal so, mal so genannt, Bewohner aus dem Haus entfernt und neue hinzugefügt, so dass es in meinen Vorstellungen und meinen Erzählungen längst den Zusammenhang mit dem realen Haus verloren hat, während aber seine Koordinaten in der Landschaft immer ein und dieselben geblieben sind.
Dort im Auto und in dem strömenden Regen dachte ich nur daran, wie ich mit trockener Haut ins Haus gelangen könnte.
Die Tür war verschlossen, niemand war zuhause. Wir warteten.
Zwischen zwei Regenschauern verließ ich einmal kurz das warme Auto, ich berührte die runzeligen Stämme der alten Birken – ich habe sie aus dem Haus heraus, mit dem Rücken an der warmen Mauer vor fünfzig und mehr Jahren stundenlang betrachtet, die Muster der runzeligen Stämme hatten Landschaften und Gesichter geformt, und sie summten wortlose Lieder vor sich hin in einer Melodie, die nur sie kannten –, nun war unter meiner Hand nur die zerfurchte und von Mal zu Mal glatter werdende Birkenrinde, das Äste biegende Unwetter. Kein einziges Bild. Sie sind in dem Blick aus dem Zimmer nach draußen geblieben, auf der Achse des Blicks, aber da im Zimmer war ich nicht mehr und würde ich auch nicht mehr sein, wenn die Bewohnerin nach Hause kommen sollte.
Als wir gerade wieder aufbrechen wollte, bemerkte der Fahrer die Katze. Sie war groß und weiß und nahm trotz des Regens dicht an die Hauswand gedrückt an der Tür Wartestellung ein.
Frauchen kommt, sagte der Fahrer. Wir warten auch.
Der Regen ließ nach. Der Bus traf ein. Ich ging der vom Bus Kommenden entgegen.
Als die Bewohnerin den Schlüssel aus ihrer großen Einkaufstasche nahm, strich die Katze mit aufgerichtetem Schwanz um unsere Füße und gab fordernde Laute von sich.
Der Schlüssel war ein ungefähr zwanzig Zentimeter langer Eisenkoloss, der an einen alten Speicherschlüssel erinnerte, vielleicht war er das auch, und die Bewohnerin schob ihn ins Schloss.
Ja, der hier ist vom Anfang des Jahrhunderts, damals hat mein Onkel dieses Haus gebaut. Ein gutes, sicheres Schloss, solche werden heute nicht mehr gemacht.
Ich musste an ein anderes Schloss denken, was tatsächlich zu einem Speicher gehörte. 1870 war einer meiner vermeintlichen Ururgroßväter gestorben, dessen zweite Frau von ihrem Stiefsohn gerichtlich die Herausgabe des Speicherschlosses einforderte. Der Fall war besonders, weil die ganze auf Annahmen aufgebaute Verwandtschaftslinie keinerlei weitere Informationen über die Vorfahren preisgab: Sie hatten nicht gezankt, gestohlen oder sich über jemanden beschwert, so dass ihre physische Existenz vielleicht durch die Protokolle des Gemeindegerichts biografische Unterstützung bekommen hätte, und dann hatte plötzlich eine Mari einen Mann, der vom Familiennamen her zu mir passte, vor Gericht gebracht.
Im Laufe von hundert Jahren ein einziger Prozess – und auch der wegen des Familiennamens von Mari, den sie selbst zu Protokoll gab, zweifelhaft, wenn sie nicht sofort nach dem Tod ihres Mannes erneut geheiratet hat –, und der Grund dafür war eben dieses Speicherschloss.
Mari hatte sogar einen Zeugen zum Gericht mitgebracht, der mit Sicherheit sagen konnte, dass das Schloss beim Schmied in Paduvere bestellt war. Der Stiefsohn stritt vor Gericht gar nichts ab, sagte nur, dass es genauso sei, und er würde der Stiefmutter die Kosten erstatten. Die Kostenerstattung war vermutlich schon vor der Verhandlung erfolgt, denn das Gericht bestätigte, dass die Aktion vollzogen sei und die Parteien keinerlei gegenseitige Forderungen mehr hätten.
Vermutlich wäre mir der besondere Schlüssel und das Schloss ohne die hundertfünfunddreißig Jahre zurückliegende Gerichtsverhandlung gar nicht aufgefallen: Es gibt immer vereinzelte, uralte Dinge um uns herum, die seltsam anmuten und ansonsten nur noch im Museum zu finden sind. Erst im Protokoll lesen – ohne Protokoll hätte ich ja gar nicht an ein schmiedeeisernes Schloss denken können –, dann das zufällig in einer anderen Realität bemerken und Nachhilfestunden im Leben der Museen und Reservate nehmen.
Die Haustür war dick und massiv ausgekleidet, so dass das stämmige Schloss dort wie in einer Festung saß. Ich wunderte mich darüber, dass ich einst zurück nach Hause wollte, während ich hinter einem solchen Schloss saß.
Innen befindet sich ein schmiedeeiserner Haken, dachte ich, während ich hinter dem Rücken der Bewohnerin stand, und als die Tür endlich offen war, sah ich, dass es auch den Haken noch gab. Ich bekam ein Gefühl, dass das ganze vorvorletzte Jahrhundert hier Gestalt angenommen hatte und anwesend war.
Von außen betrachtet kam einem das Haus klein vor, als ich drinnen mit Erlaubnis der Bewohnerin von Zimmer zu Zimmer schritt, bewunderte ich die zweckmäßige Geräumigkeit der Zimmer: An den Wänden Schränke und mitten im Zimmer sogar ein bisschen so etwas wie Luft.
Ja, der Onkel konnte bauen. Früher wurden sogar die Balken eines Hauses zu einer bestimmten festen Zeit im Wald gefällt, man baute nach gewissen damals bekannten Künsten. Renovierungen sind am Haus kaum durchgeführt worden.
Wir haben einander gewiss fünfzig Jahre nicht gesehen?
Nein. Wirklich nicht, und doch habe ich ein Gefühl, als wäre ich gestern hier gewesen.
Du bist immer noch dieselbe, ich habe dich sofort erkannt. Wie du so über die Straße zur Bushaltestelle kamst, da sah ich, dass du es warst.
Wir haben das gleiche Haar und die gleiche Statur, antwortete ich.
Ja, wir sind nah verwandt, sagte die Frau.
Ich konnte nicht ausmachen, an welchem Punkt die Zeit stehengeblieben war. Wahrscheinlich war es zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Die eingestellten Möbel waren von später, aber vermutlich auch nicht im Laden gekauft. Notwendige, praktische Möbel: Die Schränke so, dass etwas in sie reinpasste, sie sich aber nicht in den Vordergrund schoben. Viereckige, glatte Oberflächen. Kräftiges, glanzloses Holz. Wenig Möbel, das anspruchslose Leben der Dinge.
Ich habe nie verstanden, worauf diese Anspruchslosigkeit verwies. Entstammte dieses Asketentum, das einen Gebieter voraussetzte oder sich ihn erhoffte, der Knechtshütte, damit man in einer anderen Zeit und bei veränderter Mentalität „Wacht auf, Verdammte dieser Erde“ singen konnte, oder war sie ein Zeugnis der Haltlosigkeit des Lebens nach der Katastrophe.
Denn Anfang des 20. Jahrhunderts wurden in Estland und Livland die Güter aufgelöst, die Identität der den Deutschen dienenden, dem Landvolk entwachsenen Zwischenschicht war in Zweifel gezogen worden. Das erst im Entstehen begriffene Nationalgefühl schwor einer möglicherweise erdachten urzeitlichen Freiheitszeit die Treue, als deren Verräter sich in den Augen des neuen Geschichtsbewusstseins jetzt die gutstreuen Diener erwiesen. Dass unsere ersten Intellektuellen die Nachkommen eben gerade dieser Zwischenschicht waren, geriet in Vergessenheit. Vielleicht weil sie schließlich die Vorkämpfer der neuen Zeit waren. Sie schienen sich nicht einmal selbst Rechenschaft darüber abzulegen, dass ihr Aufstand gegen die patriarchalische Herrentreue der vorangegangenen Generation die Grundlage für die Herausbildung eines Nationalbewusstseins war.
Ich habe gar nicht darauf geachtet, ob du wohl einen Kühlschrank hast, fragte ich dann, nachdem die Frau den Tisch notdürftig mit Sülze, Brot und Butter gedeckt hatte.
Doch, doch. Er ist dir in der Küche nicht aufgefallen. Ich habe einen Kühlschrank, einen Fernseher, eine Waschmaschine und ein Radio. Ich habe alles, was ich brauche.
Du bist Rentnerin. Wie kommst du zurecht?
Von der Rente alleine würde ich das auch nicht. Ich habe eine kleine Rente, ich habe nicht viel gearbeitet, die Gesundheit ließ das nicht zu, aber ein Deutschbalte hat mir dreißig Hektar Land geschenkt, wir selbst hatten auch sieben Hektar, ich habe Land verpachtet, davon habe ich ein paar Einkünfte. Das Haus gehört mir, ich komme ganz gut hin, auf die Hilfe der Kinder bin ich nicht angewiesen.
Was für ein Deutschbalte ist das, überlegte ich, der daherkommt und in einem estnischen Dorf eine verwitwete Frau sucht, um ihr Land zu schenken, aber laut gesagt habe ich nichts.
Es gab wenig Bilder. Die Frau hatte alle alten Fotos unter ihren Kindern aufgeteilt, und auf Grundlage der wenigen, die geblieben waren, konnte ich keinerlei Schlüsse ziehen: Die Männer trugen meistens Fliegen, auch gewöhnliche Schlipse, weiße Manschetten, Anzüge, die Frauen in dezenten dunklen Kleidern – es gab auch ein Bild von einem Familientreffen – und kein einziger ernster, sich im Leben emporschuftender kräftiger Landwirt, bei dem die Hände auch in Ruhestellung gezeigt hätten, dass zwischen ihren Fingern normalerweise vielleicht sogar Hufeisen gerade gebogen würden.
Auf einem Foto war die junge Mutter der Bewohnerin mit einem Mann und einer Frau zu sehen.
Wer waren sie?
Der Gutsherr mit seiner Frau.
Dieser kleine Mann mit dem buschigen Schnurrbart ist wirklich der Gutsherr?
Ja, das ist er.
Das war also schon Anfang des Jahrhunderts.
Ja, vermutlich. Meine Mutter ist 1895 geboren, hier ist sie ungefähr achtzehn oder zwanzig, antwortete die Frau.
Was war er dort auf dem Gut?
Oh, das weiß ich nicht. Vielleicht Kartoffelschäler, gab sie etwas wortkarg zurück.
Weiter fragte ich nicht. Wahrscheinlich hätte ich es selbst wissen müssen, aber da ich es nicht wusste, war es sinnlos weiterzufragen. Mir war schon früher aufgefallen, dass die Leute, die auf dem Gut Dienst taten, nicht gerne darüber sprachen. Größere Nähe wurde gänzlich verschwiegen. Die Ideologie von den siebenhundert Jahren Sklaverei hatte ganze Arbeit geleistet. Mit den Unterdrückern gut ausgekommen zu sein, bedeutete noch Jahrzehnte später Schimpf und Schande. Eine ganz andere Sache war die Geschichte vom Recht der ersten Nacht und dem auf diese Weise geerbten blauen Blut. Davon konnte man sprechen, damit konnte man sogar prahlen, denn die Verbindung war nicht freiwillig. Eine erzwungene Freiwilligkeit verlieh einem irgendwie Würde.
Zehn Prozent von uns sind adlig, erläuterte der Vorsitzender einer Abteilung der genealogischen Gesellschaft im Radio, und darin lag eine Wertung: Wenn man das Blut hat, gibt es auch einen Titel. Die höfische Standeskultiviertheit war ja etwas Lächerliches, es reichte vollkommen, wenn der Bauerntölpel mit einer etwas entwickelteren Sorte gekreuzt wurde.
Ich drehte das Foto zwischen meinen Fingern hin und her.
Was ist dieser Gutsherr doch klein und wie lustig ist sein Schnurrbart! Sieht aus wie ein Wels. Aber ich wusste nicht, wie ein Wels wirklich aussieht. So hatte ich nur Worte gebraucht und einen Vergleich verwendet, von dessen Inhalt ich keinen Schimmer hatte.
Nach den Fragen und Antworten, was ich tue, wo ich wohne, wie es den anderen Verwandten gehe, sagte die Frau, während sie mir Fotos ihrer Kinder und Enkel zeigte:
Dein Vater wurde 1955 erschossen.
Dreiundfünfzig, antwortete ich.
Ja, so waren die Zeiten. Von einem einzigen Menschen hing wenig ab. Mein Vater wurde während der deutschen Besetzung zum Fuhrdienst abkommandiert, als die Russen kamen, wurde er dafür hingerichtet. Wir wohnen ja auch so nah an der Straße, da sind wir sofort aufgefallen.
Ich erinnere mich an den Tag, als wir hierherkamen: Vater, Mutter und ich. Die Sonne schien. Der Schnee schmolz bereits. Und die Deportation der Leute aus dem Nachbarhof konnte ich mir vom Küchenfenster aus anschauen.
Sie sind aber zurückgekommen. Nicht alle sind das, sagte die Frau.
Und dann erinnere ich mich, wie Kaata hierher kam. Einmal ist sie wohl vorher schon dagewesen, aber dann kam sie und blieb. Von hier bin ich zur Schule gegangen.
Du weißt doch, dass Kaata nicht deine Mutter ist?
Ob es wirklich Kaata war, dachte ich. Wenn es Sanna nicht gibt – und Sanna gibt es nicht, weil sie von einer anderen Zeit eingefangen wurde: so vollständig eingefangen wurde, dass du es nennen kannst, wie du willst, heraus hört man nichts aus der von einem schwarzen Loch verschluckten Welt –, ja, wenn es Sanna nicht gibt, gibt es Kaata auch nicht. Es ist jemand anders, wie es im Lied heißt, jemand anders wurde zu Grabe getragen, und wir werden nie erfahren, wer es war.
Vielleicht passt Kaata dann als Hülle, in der sich ein bekanntes Skelett verbirgt. Ich befreie jeden Beliebigen durch Namensänderung von der Vergangenheit, ich löse sowohl den zur Welt Kommenden wie den Kranken im Geschehen auf, denn in den Worten sind Höhlungen entstanden, die die Bedeutung verändern, sie sind aus einer relativ gewordenen Welt in die Sprache eingedrungen.
Nicht umsonst schreibt ein fremdländischer Gesandter und Spion, dass der Folterknecht und der Gefolterte, der Deporteur und der lebendig von der Deportation Heimgekehrte freundschaftlich nebeneinander leben, sie bekommen vom gemeinsamen Staat Gerechtigkeit und Lebensversicherung zugeteilt, das Reich der Vernunft ist auf die Erde niedergekommen, in diesem Land blüht die Demokratie. (Löwe und Lamm grasen nebeneinander. Sie haben keinerlei Absicht, sich gegenseitig zu fressen.)
Hier gelang es uns, wir sind ja schließlich Menschen, überraschend schnell, einen Frieden zu finden. Hier ist nicht das Nachkriegsdeutschland, Nürnberg ist sowieso eine Farce geworden, wo ein Henker über einen Henker urteilte, und der alles begreifende Chor bestätigte die entleerte Gerechtigkeit mit einer wahlweisen Bestrafung und dem Tod.
Ich möchte mir diesen Hohlraum des Verstandsglaubens von innen heraus betrachten, dachte ich weiter, denn ich kann ja nicht sagen: Ich bitte um Verzeihung, dass du mich töten musstest, und mich tröstet auch nicht die Antwort, dass der Mörder immer mehr leidet als das Opfer.
Wir versöhnten uns so schnell, weil wir uns entschlossen haben, als Tote weiterzuleben. Wir sind ein kleines Volk, das, um am Leben zu bleiben, im Laufe der Zeiten gelernt hat, sich mit Scheunenvogten und Schraten anzufreunden und einander heimlich Bedeutungen und Worte zu stehlen.
Du weißt doch, dass Kaata nicht deine Mutter ist, hatte die Frau vor einer Weile gefragt.
Natürlich weiß ich das, antwortete ich verdutzt.
Woher kam dieser Satz rausgerutscht? Hat Kaata tatsächlich einmal gesagt, dass ich ihr Kind sei? Die Stille hielt lange an, die Frau sammelte sorgfältig die Fotos zusammen, die für genügend Gesprächsstoff gesorgt hatten, und ich überlegte, dass ich zwei wichtige und unerwartete Neuigkeiten gehört habe. Beide betrafen Kaata.
Inwiefern sie seltsam war? Kaata war die einzige, deren Befragung ich abgebrochen hatte. Mit ihr passierte immer irgendwas, sie berichtete von den Wechselfällen ihres Lebens auf sehr unterschiedliche Weise, so dass ich am Ende immer ganz müde vom Zuhören wurde und niemals die Geduld hatte, bis auf den letzten Grund vorzudringen.
Außerdem haben auch die Verwandten ihre Art und Weise zu reden, die die Ereignisse immer aufbauschte, nicht ernst genommen. Kaata redete sich alles von der Seele, redete auch über Dinge, die es nicht gab, sie war die Plaudertasche der ganzen Verwandtschaft, die auch häufig über sich selbst lachte. Mir zu vertrauen, damit muss man vorsichtig sein, hatte sie manchmal gesagt, ich merke es selbst nicht, wenn ich mit meinen Ausführungen zu weit gehe.
Aber mein Verwandter, den ich nach einem halben Jahrhundert gefunden hatte, war in seinen Aussagen über sich so knapp wie ich selbst. Er machte eine Bemerkung, erläuterte aber auch auf Nachfragen nicht, was er damit eigentlich meinte. Ein Ausspruch war ein Zeichen, dass er etwas bemerkt hat, und es war Sache des Zuhörers, bei dem Gesagten nachzuhaken oder nicht.
Mein nächstes Ziel war jetzt Kaata.