• Home
  • About Ene Mihkelson
  • Translations
  • Contact

Der Schlaf von Ahasver

Translations

  • In English
  • In German
    • Der Schlaf von Ahasver
    • Pestgrab
    /
  • Translations
  • /
  • In German
  • /
  • Der Schlaf von Ahasver
Auszüge aus den Kapiteln 43 und 45 aus dem Roman "Der Schlaf von Ahasver" (Ahasveeruse uni, Tuum 2001)
Übersetzt von Irja Grönholm

Bist du Bürger der Republik Estland, fragte sie mich ein andermal. Für sich selber würde sie es aus dem Pass ersehen. Aber eigentlich (und in dem Zusammenhang, der Reihenfolge der Bürgerregistrierung) würde sie sich als Band (Strick) für die Inkarnation der Beständigkeit fühlen, das mit einem Ende an den Zweiten Weltkrieg anknüpft und durch die Okkupationen hindurch bis zum wieder eigenständig gewordenen Estland reicht, bis zum Ende des Jahrhunderts, des Jahrtausends, vielleicht sogar bis ins dritte Jahrtausend hinein.
So stände es in ihren Lebenspapieren geschrieben. Der Zigeuner hat andere Papiere, der Arzt wieder andere. Ihre Papiere betreffs Berührung mit der Außen(?)welt würden überhaupt nicht existieren. Wenn sie nicht schreiben würde. Wenn sie mir von dieser Berührung nichts erzählen würde. Ihre Mutter und ihr Vater existierten durch sie, wenngleich sie manchmal bezweifeln würde, ob jene überhaupt so, wie sie sie in sich vorfindet, gewesen seien. Denn in mir fand sich keiner von beiden, und auch in ihr seien sie nicht, denn Meinhard ist tot und die Mutter erinnert sich an nichts. (Eigentlich erinnert sie sich an alles!)
Wenn sie von den unterirdischen Bunkern erzählte, wisse sie sehr wohl, dass es in den meisten Fällen nicht ganz so gewesen sein konnte. Die Bunker wurden oberirdisch und ins Unterholz gebaut, damit die Wände vom Gestrüpp und den Bäumen getarnt waren. Doch da der Tod alle getroffen hat, die im Bunker gelebt haben, sei sie gar nicht so weit entfernt von der Wahrheit. Die Erde übernahm jene mit größerer Sicherheit, als jeden anderen.
Dann müsse sie sagen, dass sie die Bezeichnung Waldbruder ein wenig fürchte – obwohl sie auch über sich selbst leichtfertig behauptet habe, dass sie genau das sei -, denn sie spüre allein in der Bezeichnung neben verzweifeltem Widerstand auch die Hoffnungslosigkeit und den Drang, bis zum bitteren Ende zu gehen. Besonders in den Zeiten, als ihre Eltern im Wald waren. Ein Waldbruder ist doch kein bisschen flexibel, sagte sie, bitter grinsend. Ein Waldbruder riskiert alles. Für den Waldbruder gibt es entweder Leben oder Tod. Nichts dazwischenliegendes, nicht einmal Waffenstillstand, wie im Krieg oder in einer Schlacht. Irgendwann hatte Vilma zu ihr gesagt: Selbst den Deportierten und denen, die in Gefangenschaft waren, geht es besser als mir. Viele sind mit dem Leben davongekommen, und jetzt werden sie geehrt. Aber Meinhard hat ja immer nur von der estnischen Unabhängigkeit gesponnen und dass man uns zu Hilfe kommt. Das war dann der Preis. Keiner ist gekommen, und ich bin im Wald geblieben.
Der Waldbruder ist zeitlebens vogelfrei und bleibt es auch nach seinem Tod. Es gibt keine Regeln, nach denen sich Leben oder Tod eines Waldbruders richten würden. Wie die Bezeichnung Freiheitskämpfer klingt, dringt ja nie ans Ohr der Gefallenen, in ihrem Tod ist nichts Erhabenes. Im Tod an sich ist nichts Erhabenes. Was auch in Wirklichkeit geschehen sein mag, die Reden der am Leben gebliebenen sind immer die des Staates.
Braucht ein Staat den Krieg? fragte sie dann.
Darauf wisse sie keine Antwort, aber sie sehe, dass man mitten in Europa, genauer gesagt in Jugoslawien, unter freiem Himmel, in der Erde und im Wald leben würde, denn vom Himmel fielen Bomben statt Regen und Schnee, die Menschen würden aus ihren Häusern vertrieben; aus dem Menschen ist zum Ende des Jahrhunderts ein vertriebenes und gehetztes Tier geworden. Wen nennt man jetzt Waldbruder und Kämpfer, wer ist sie selbst, wenn es Augenblicke gibt, in denen der eigene Körper eins mit der Erde ist?
Sie würde doch die Höhe so sehr mögen, draußen auf dem Rücken auf der Erde liegen und die ziehenden Wolken betrachten. Den Moment des Aufstiegs, das Aufsteigen bis hinter die Wolken spüre sie aber nur durch den Lärm der Flugzeugmotoren. Und dann, wenn sie weg ist, weg von Estland und der Erde, da oben ist, wo es keine Grenzen, keine Wälder und keine Sonne gibt (nur Licht gibt es, grelles Licht), zweifelt sie alles an, auch die Existenz der Waldbrüder. Denn jeder, der sich im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte wähnt, würde ihr klar machen, dass es sinnlos ist, nach dem Kern dessen, was vor sechsundvierzig Jahren geschehen ist, zu bohren.
Ob ich überhaupt einsehen würde, dass auch Geschehnisse einen Kern haben, dies Zeugnis davon, dass nicht etwas Beliebiges geschehen sein konnte. Das Substantiv ist der Kern der Ereignisse, ein Mord bleibt auch nach Zeiten ein Mord. Lange Zeit habe sie die Träume der Archivmänner nicht verstanden, aber jetzt würde sie sie verstehen. Deren Traum nämlich würde sie träumen.
Genau da flüsterte ihr jemand ins Ohr – es kam ihr wirklich so vor, als würde man es ihr ins Ohr flüstern -, dass das Leben das Wichtigste sei, und alles andere sei unwichtig.
Viele Menschen haben gar keinen Kern, würde ich ihrer Meinung nach denken - und das sagte sie auch: du denkst, dass es keinen Kern gibt, keine Seele gibt, und dass all unsere Schritte davon gelenkt werden, ob sie uns zum Vorteil gereichen -, was sie außer Müh und Not habe, das wisse sie noch nicht.
Ich habe doch nichts mehr zu verlieren.
Nicht dieses Foto des Vergessens, nein! - stöhnte sie -, nicht das Vergessensfoto wollte sie.
Judas quält einen unentwegt. Judas und Richard Milk in Zweieinigkeit! Sie flüstern mir was ins Ohr, sagte sie zu mir, ihre Gesichter sind nah, die Augen groß, als wollten sie all unsere gemeinsame Luft wegatmen. Mit den Augen wegatmen, mit dem Blick in die Falle locken, während sie zwischen lichten Momenten nach wie vor unter der Decke träumte.
Aber wenn sie hervorkam – unter der Decke, aus der Höhle oder dem Schneesturm hervorkam -, erzählte sie ganz etwas anderes.

(...)
Begrab deinen Vater doch schon jetzt, begrabe ihn im Leben, in Gedanken, dann ist wenigstens dies zum Ende der Zeiten erledigt, und keiner kann dir den Erinnerungsort wegnehmen.
Zum Ende Deiner Zeiten, denn die Welt hat ja kein Ende. Es gibt keine Grenze und keinen Verschlag. Obwohl sie nötig wären, sogar bitter nötig, wie im Falle eines Krieges, einer Katastrophe oder einer Krankheit.
Ich habe kürzlich Beschreibungen jener Schlachten gelesen, an denen mein Vater mutmaßlich (NB!mutmaßlich!) teilgenommen hat, doch auf den Namen meines Vaters stieß ich nicht. Mein Vater erinnert sich nicht, er kann sich nicht erinnern, denn er ist tot, und so zeichneten sich besagte Schlachten als graue Flecken in der Anonymität der Schützengräben ab. Auf diesen Hintergrund, darauf, dass ich Personen der Vergessenheit entreisse, zielt meine Jagd doch ab, und es ist vollkommen egal, dass der Anteil einer Person an der Geschichte genauso groß ist, wie der meiner Hofkastanie. Ich rede über die Katanie. Würde ich NICHT reden, wäre auch die Kastanie nicht.
Dann – eines nachts - dachte sie darüber nach, wie seltsam es doch ist, dass sie über ihren Vater und seine Verwandten außer dem Pferdegestüt und dem Gold nichts wusste und dass Meinhards scherzhaft geäußerter Satz – der Wald macht frei – eine Paraphrase für einen anderen Satz sein konnte. Konzentrationslager gab es ja auch in Estland, obwohl sie sich offiziell über Jahrzehnte auf nur zwei oder drei Ortsnamen beschränkten. Sollte auch DAS wahr sein, dann habe ich total an mir vorbeigelebt. Mir ist direkt dazu verholfen worden, an mir vorbeizuleben. Das Schweigen um mich herum ist undurchdringlich. Und sag doch mal, sag doch mal – wiederholte sie mit Betonung -, dieses um mich herum errichtete Schweigen, schützt oder attackiert es mich? In diesem Land hier wird man ja regelrecht gezwungen, sich zu verleugnen.
Wenn meine Mutter wirklich nicht gewusst hat, dass Kaarel ein Spitzel war, hat sie das Schlimmste getan, das eine Mutter ihrem Kind antun kann: sie hat mir die Traditionen, die Verwandten und das Wissen genommen - all das, zu dem ich durch meinen Vater gehöre.
Sie sei mitten in der Nacht von einer solchen Angst befallen worden, dass alle erdenklichen Träume sie verlassen hatten.
Und als sie dann am andern Morgen andere Leute aufgesucht hatte – in Sachen Arbeit und überhaupt, um mal über den Tellerrand zu gucken -, habe sie das Gefühl beschlichen, als sei sie im Kindergarten. Für Kinder hat man schon so etwas wie Geschichtsverständnis entwickelt, und wenn man alt ist, weiß man sowieso, dass jede Beschreibung, die auf den Wahrheitsgehalt des Vergangenen zielt, genauso hauchdünn, fragwürdig und schön ist wie ein Märchen: Das Gute besiegt das Böse, und der Dümmste wird König. Hab Geduld, du wirst mal König.
Mein Vater war ein ganz gewöhnlicher Mann – nach Ansicht der anderen, für mich ist er doch mein Vater! -, und es ist mir vollkommen egal, ob er da in der Schlacht zwei oder fünf Mann erschossen hat, er MUSSTE schießen, denn Kaarel hat keinen einzigen Schuss abgegeben, Kaarel wurde am Leben gelassen, deswegen hat er nicht geschossen. Nicht den Helden jage ich, den Menschen jage ich, den Menschen suche und erwarte ich. Gerade im Gewöhnlichen steckt das Potential des Besonderen, mein Vater musste wohl unter entsprechend günstigen Bedinungen zum Missbrauch wie geschaffen sein. Deshalb ist es immer vernünftiger, anders als das Gras zu leben, als die Natur oder der einfache Wechsel der Jahreszeiten. Das Geburtsjahr, das Aussehen und die eine oder andere Form des Namens werden ohnehin missbraucht. Man nimmt dich dir selber weg. Und wenn du dir selber weggenommen bist, haben auch die Kinder nichts zu erzählen.

Ene Mihkelson Society, www.enemihkelsoniselts.ee
  • Home
  • About Ene Mihkelson
    • Published books
  • Translations
    • In English
      • Po river
      • The Sleep of Ahasuerus
      • Plague Grave
    • In German
      • Der Schlaf von Ahasver
      • Pestgrab
  • Contact